Jubiläumslektüre
Die Frage der Zwangsheirat in der Schweiz – zwischen Realität und vorgefassten Meinungen
Nathalie Chuard & Sarah Müller
Laut Unicef wird die Corona-Pandemie bis 2030 zu wahrscheinlich zehn Millionen weiteren Kinderehen weltweit führen, und zwar aufgrund mehrerer Faktoren: Schulschliessungen, Tod von Eltern sowie Unterbrechung der öffentlichen Dienstleistungen.
Man könnte meinen, es gäbe in der Schweiz keine Fälle von Zwangsheirat. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Von 2016 bis 2020 wurden in der Schweiz alleine von der Fachstelle Zwangsheirat 1687 Fälle1 erfasst. Von dieser Gesamtzahl waren etwa 35 % der Betroffenen zum Zeitpunkt des Ereignisses minderjährig. Und die Tendenz ist steigend. Es handelt sich um 5 Fälle von unter 16-Jährigen, die die Fachstelle Zwangsheirat seit Beratungsbeginn bis Ende 2015 gezählt hat. Alleine im Jahr 2016 waren es bereits 51 Fälle von Personen im Schutzalter. Im Jahr 2020 hat die Fachstelle insgesamt 361 Fälle betreut. Leider ist zu betonen, dass diese Zahlen nur die Spitze des Eisbergs darstellen, da sie sich nur auf Personen beziehen, die sich gezielt an die Fachstelle gewandt haben.
Es ist wichtig, folgendes hervorzuheben: «Während die Schweizer Statistik zeigt, dass Fälle von Zwangsheirat fast immer Personen ausländischer Herkunft betreffen, können sie nicht mit bestimmten Ländern oder Kulturen in Verbindung gebracht werden. [...] Auch ist das Phänomen keiner bestimmten Religion zuzuordnen. [...] Die Gründe für Zwangsheirat sind in Wirklichkeit viel komplexer.» 2
In diesem Artikel werden wir versuchen, einige Aspekte dieses Phänomens zu beleuchten.
Drei Fälle für dasselbe Problem
Zunächst einmal, wie ist "Zwangsheirat" definiert? Gemäss einer Studie des Bundesamts für Migration3 (heute Staatssekretariat für Migration [SEM]) lassen sich drei Varianten unterscheiden: Typ A bezeichnet den Fall, dass eine Person von ihrem Umfeld in eine Ehe gedrängt wird, die sie nicht will ("Zwangsheirat" im engeren Sinn). Typ B ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person unter Druck gesetzt wird, auf eine (gegenwärtige oder zukünftige) Liebesbeziehung ihrer Wahl zu verzichten ("Liebesverbot"). Typ C schließlich betrifft Situationen, in denen eine Person daran gehindert wird, sich von ihrem Partner zu trennen oder scheiden zu lassen, obwohl sie dies wünscht ("gezwungen, verheiratet zu bleiben"). In diesem Fall kann die Verbindung freiwillig oder unfreiwillig eingegangen worden sein.
Unabhängig von der Art der Zwangsheirat stehen die Behörden vor dem gleichen Problem, nämlich dem der Loyalität. In der Tat hat das Opfer ein starkes Gefühl der Loyalität zu seiner Familie und Gemeinschaft, verbunden mit der Angst vor den Konsequenzen, das Verbrechen anzuzeigen oder Dritte um Hilfe zu bitten. Beides hält es davon ab, eine Strafanzeige zu erstatten.
Nationale Aktionen seit 2012
Wie sieht die Schweizer Gesetzgebung aus? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, einen kurzen historischen Abriss zu geben. Die erste Studie zu diesem Thema erschien 2006 im Rahmen einer Umfrage der Stiftung SURGIR4. Diese ebnete den Weg für verschiedene Aktionen auf nationaler Ebene, darunter die Motion Heberlein5, die 2008 von den Bundeskammern angenommen wurde. In der Folge ist seit dem 1. Juli 2013 das Bundesgesetz über Massnahmen zur Bekämpfung von Zwangsheirat in Kraft. Zusätzlich zu diesem Gesetz wurde im selben Jahr vom Bundesrat ein Programm zur Bekämpfung der Zwangsheirat gestartet. Das Programm umfasst die Bereiche Prävention, Beratung, Unterstützung und Schutz sowie Schulung. Zu diesem Zweck wurden den Kantonen zwei Millionen Franken für fünf Jahre gewährt.
Auf Bundesebene ist das Staatssekretariat für Migration mit Unterstützung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann mit der Umsetzung dieses Programms betraut worden. Auf internationaler Ebene hat die Schweiz am 1. April 2018 die Istanbul-Konvention6 ratifiziert, deren Artikel 32 und 37 die Vertragsstaaten verpflichten, die notwendigen Massnahmen zur Bekämpfung von Zwangsehen zu ergreifen. Auf nationaler Ebene gibt es mehrere Bestimmungen: Art. 105 Ziff. 5 und 6 ZGB, 181a StGB, 51 Abs. 1bis AsylG, 50 Abs. 2 AIG, 44 und 45a IPRG und 22a BPG, um nur einige zu nennen.
Zwangsheirat, eine öffentliche Angelegenheit
Wie ist die aktuelle Situation in der Praxis? Um uns ein konkretes Bild von der Situation zu machen, haben wir verschiedene eidgenössische Stellen sowie kantonale Stellen im Waadtland kontaktiert, die sich im Kampf gegen die Verletzung des Rechts auf Ehe und Selbstbestimmung engagieren. Der Austausch mit der Abteilung Asylverfahren und -praxis des SEM, der Fachstelle Zwangsheirat sowie der kantonalen Fachstelle für Integration und Rassismusprävention (BCI) ermöglichte es uns, die Herausforderungen zu erkennen, mit denen die Fachleute in diesem Bereich täglich konfrontiert sind.
Ein wichtiger Punkt ist es, den Betroffenen bewusst zu machen, dass Zwangsheirat keine Privat- oder Familienangelegenheit ist, sondern eine öffentliche Angelegenheit. In der Tat hat die Frage der Ehe rechtliche Grundlagen, die respektiert werden müssen. Anschliessend ist es notwendig, über die Existenz von Institutionen zu informieren, die sie mit Informationen versorgen und ihnen helfen können, eine gute Lösung für ihre Situation zu finden. Eines der Ziele ist es, die Betroffenen durch geschulte und informierte Fachleute zu unterstützen, die in der Lage sind, sie zu begleiten, insbesondere in Bezug auf die Gesetzgebung.
So hat die Fachstelle Zwangsheirat Beratungen auf drei Ebenen entwickelt: ein erstes vertrauensbildendes Gespräch, in dem die Situation skizziert wird; ein vertiefendes Gespräch, in dem mit verschiedenen Instrumenten (Soziogramm, Psychogenese usw.) eine Einschätzung der Risiken und Gefahren vorgenommen wird; und spezielle Beratungen, die auf die Suche nach Lösungen ausgerichtet sind.
Wenig Rechtsprechung
Wie haben die Gerichte bisher entschieden? Bei unseren Recherchen waren wir überrascht, wie wenig Rechtsprechung es in diesem Bereich gibt. In der Tat ist es oft schwierig, andere Beweise als Zeugenaussagen zu erbringen. Dennoch erging im Juli 2020 ein Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, das die strafrechtliche Verurteilung des Familienvaters, der für die Zwangsheiraten seiner beiden Töchter verantwortlich war, bestätigte, obwohl die Betroffenen ihre Aussagen von der erstinstanzlichen Gerichtsverhandlung zurückgezogen haben. In diesem Fall stützte das Gericht seine Entscheidung auf die Aussagen der Opfer und Zeugen, was ein Novum in diesem Bereich ist. Es wird interessant sein, die Auswirkungen dieses Entscheids auf die Schweizer Gerichte zu beobachten. Bislang gab es nur zwei erstinstanzliche Urteile.
Wie lässt sich das erklären? Rechtlich gesehen sind alle Behörden des Bundes und der Kantone verpflichtet, Fälle von Zwangsheirat zu melden, allerdings nur, soweit dies mit ihren Aufgaben vereinbar ist (Art. 43a Abs. 3bis ZGB und 45a AIG). Darüber hinaus wird die Straftat nach Art. 181a StGB von Amtes wegen verfolgt, wenn die zuständige Behörde von ihr Kenntnis hat. In diesem Zusammenhang ist das SEM z.B. verpflichtet, auf der Grundlage von Art. 51 Abs. 1bis AsylG jede Situation oder jeden Verdacht auf Zwangsheirat den zuständigen Behörden zu melden. Beratungsstellen wie die Fachstelle Zwangsheirat haben eine Schweigepflicht gemäss Art. 11 OHG. Der gesetzliche Rahmen ist sicherlich wichtig, aber die Unterstützung der Betroffenen bzw. der Opfer basiert im Wesentlichen auf einem Vertrauensverhältnis zu der betreuenden Fachkraft. Unter diesen Umständen ist der Wunsch der Person in Bezug auf die zu ergreifenden Massnahmen ausschlaggebend (z. B. Schutzmassnahmen, Antrag auf Annullierung einer Ehe, Änderung der Identität, strafrechtliche Verurteilung usw.).
Mögliche Verbesserungen
Welche Massnahmen würden die Situation verbessern? Anpassungen sind notwendig, damit die Unterstützung für die betroffenen Personen so angemessen wie möglich ist. Einer der wichtigen Punkte, die während unserer Diskussionen hervorgehoben wurden, ist die entscheidende Notwendigkeit, Fachleute, insbesondere im juristischen Bereich, zu schulen, zu informieren und für die Komplexität dieser Situation zu sensibilisieren, die oft auf kulturellen Aspekten beruht. In der Tat ist es wichtig, die von diesen Frauen und Männern erlebte Realität zu verstehen. Einige Richter sind sich der mangelnden Freiheit und Selbstbestimmung der Opfer nicht unbedingt bewusst, was zu einer Diskrepanz zwischen der Anwendung des Gesetzes und der Praxis bestimmter Bräuche führt.
Wie ist abschliessend die Bewertung der Programme und Gesetze, die die Schweiz in den letzten Jahren eingeführt hat? Es ist unbestreitbar, dass der Bund und die Kantone seit 2012 Fortschritte in Bezug auf den Umgang mit und die Unterstützung von Fällen von Zwangsheirat gemacht haben, insbesondere durch die diesbezüglichen Programme und gesetzlichen Massnahmen. Der Rückstand gegenüber anderen europäischen Ländern konnte damit einigermassen aufgeholt werden. Dennoch darf dieser Kampf nicht aufgegeben werden, vor allem nicht in der aktuellen Gesundheitskrise. Im Gegenteil, die Anstrengungen müssen beibehalten und sogar verstärkt werden, um die wachsenden Zahlen von Zwangsheirat zu reduzieren.
1: In dieser Zahl sind nur Fälle enthalten, bei denen fachliche Beratung(en) stattgefunden haben. Die Fachstelle koordiniert noch ein nationales Monitoring von Fällen, und von dieser Seite werden ihr zusätzliche Fälle gemeldet. Die genannte Zahl bezieht sich nur auf die eigenen Fälle, welche die Fachstelle begleitet hat.
2: Mariages forcés – Dossier d’information, SEM, Berne, 2018.
3: « Mariages forcés » en Suisse : causes, formes et ampleur, Office fédéral des migrations ODM, Berne, 2012 ; Mariages forcés – Dossier d’information, SEM, Berne, 2018.
4: « La prévalence du mariage forcé en Suisse : rapport de l’enquête exploratoire » - Fondation SURGIR, Lausanne, 2006.
5: In der Motion Heberlein ging es speziell um die Stärkung des Strafrechts durch den Bundesrat.
6: Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.