Portrait Sonia Giamboni
Sonia Giamboni, lic. iur, Pretore presso Repubblica e Cantone Ticino.
Liebe Sonia, du wurdest soeben zur Richterin am Berufungsgericht des Kantons Tessin ernannt. Seit unserem gemeinsamen Studium in Freiburg und Köln hast du deine Karriere in Richtung Richteramt aufgebaut. War das ein Traum?
Von dem Moment an, als ich mein Anwaltspatent machte, war mir klar, dass mein Weg in den Justizdienst führen würde und nicht in den Anwaltsberuf. Ich konnte eine Partei nicht verteidigen, wenn ich merkte, dass sie im Unrecht war. Ich hatte das Gefühl, Kleider zu tragen, die mir nicht passten. Daher kam ich schnell zu dem Schluss, dass ich als Richterin arbeiten wollte, in einer neutralen und unparteiischen Position, um zu entscheiden, was für mich die fairste und gerechteste Lösung in einem Rechtsstreit ist.
Mein Traum war es, «Pretore», d. h. Bezirksrichterin, zu werden, was ich mir 2011 auch erfüllt habe. Als ich Richterin am Berufungsgericht wurde, hat das meine Träume und Erwartungen sogar noch übertroffen. Im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass dies die fairste und natürlichste Entwicklung in meiner Karriere war, und ich bin natürlich sehr glücklich darüber.
Wenn du dich in nur einem Wort beschreiben müsstest, welches wäre das?
Altruistisch
Was sind deiner Meinung nach die aktuellen Herausforderungen im Bereich des Gleichstellungsrechts?
Es wurde bereits so viel getan. Dennoch werden wir erst an dem Tag Gleichberechtigung erreicht haben, an dem nicht nur Frauen, sondern auch Männer gefragt werden, wie sie Beruf und Familie miteinander vereinbaren.
Was schätzt du besonders an deiner Tätigkeit als Richterin bzw. Was bedeutet es für dich Richterin zu sein?
Als ich Richterin in erster Instanz war, liebte ich den Kontakt mit den Parteien, die Gerichtsverhandlungen und die Möglichkeit, ihnen zu helfen, eine Einigung zu erzielen. Eine solche Einigung war aus rechtlicher Sicht vielleicht nicht perfekt, aber sie war für diese Parteien zu diesem Zeitpunkt die beste Lösung und ersparte ihnen Geld, Energie und manchmal auch ihre Gesundheit, da ein langwieriges Gerichtsverfahren vermieden wurde. Richter:in zu sein bedeutet, die Parteien und ihr Umfeld zu verstehen und mit Einfühlungsvermögen Fakten in Entscheidungen umzusetzen, indem man das Recht anwendet und sich dabei von der Rechtsprechung und der Lehre inspirieren lässt. Als Richterin der zweiten Instanz werde ich diesen Ansatz weiterverfolgen.
Was waren die Schlüssel/entscheidenden Elemente in deinem Werdegang?
Sicherlich meine Rechtslehrerin in der Hochschule, die dafür gesorgt hat, dass ich mich in das Fach verliebt habe. Damals habe ich beschlossen, dass ich Jura studieren wollte. Dann ging alles wie geplant und ich habe auf meinem Weg viele Mentorinnen und Mentoren kennengelernt, von meinen Praktikumsleiter:innen über meine Vorgesetzten bis hin zu meinen Kolleg:innen, die mir den Beruf beigebracht haben und immer noch beibringen. Es ist ein Beruf, in dem man jeden Tag etwas Neues lernt, zum Glück!
Hast du eine Juristin oder eine andere Person, die dich inspiriert?
Meine Eltern waren und sind meine grösste Inspiration und meine Vorbilder: ihre Leidenschaft und Hingabe für ihre Arbeit als Bergbauern, die Mühen, der Schweiss und die harte Arbeit, die sie jahrelang von morgens bis abends, 365 Tage im Jahr geleistet haben, um vier Kinder grosszuziehen und einen kleinen Bauernhof zu führen. Dies erinnert mich jeden Tag daran, dass man mit Demut, Engagement, Mut und Leidenschaft arbeiten muss, um seine Ziele zu erreichen, ganz gleich, um welche Art von Arbeit es sich handelt.
Was sind deiner Meinung nach die nächsten Änderungen im Recht?
Die Veränderung, die ich mir wünsche, ist eine Änderung des derzeitigen Rechtsrahmens im Tessin, damit Richter und Staatsanwälte (Männer und Frauen) Teilzeit arbeiten können. Leider ist dies im Tessin noch nicht möglich.
Von wem würdest du gerne im nächsten Monat ein Interview lesen? Was würdest du sie fragen?
Sophie Maillard, Founding Partner - Deputy CEO, BRP Bizzozero & Partners SA.
Ich würde sie fragen: «Wann wirst du Bundesrätin?»
Caroline Perriard, Präsidentin Juristinnen Schweiz
(Die Fragen wurden im Original auf Italienisch beantwortet - siehe Anhang - und im Nachgang auf Deutsch übersetzt.)